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Marc DeSargeau und FAGULON

Die Qualen vor Wahlen (2): Wer Wahlprogrammen glaubt, wartet auch auf den Weihnachtsmann



Der Hintergrund dieses Textes:

Es handelt sich um gekürzte Zitate aus dem Buch „Marionetten, Neo-Stalis und Monsterwellen“ von Marc DeSargeau, erschienen im August 2021 im FAGULON-Verlag. Das ist kein Sachbuch, sondern eine literarische „Faction“, also eine Verbindung von Realitätsbeschreibung und literarischer Erfindung. Zur Anregung der eigenen Meinungsbildung werden die Ansichten der zwei Protagonisten des Buches gegenübergestellt. Der fiktive Bundesfinanzminister Prof. Dr. Jan Mayerhof war charismatischer Hoffnungsträger, der erst zwei Jahre vor seinem mysteriösen Tod von der Weltbank in die deutsche Politik wechselte. Kurz zuvor hielt er die hier zitierten Geheimreden. Um der Diskussion der im Internet verbreiteten Transkripte dieser Reden etwas entgegen zu setzen, wurde der fiktive „Spin Doctor“ Lothar Müller beauftragt, die jeweils passende, politisch korrekte Gegenpropaganda zu entwerfen. Beide Texte werden hier gegenübergestellt, so dass man sich leicht entscheiden kann, welcher Meinung man sich anschließen möchte.



Ausschnitt aus einer Rede des fiktiven Finanzministers Prof. Mayerhof:

Ist es völlig gleichgültig, welche der etablierten Parteien man wählt?


Aus dem eben Gesagten und meinem Vortrag am heutigen Vormittag gehen die Gründe eindeutig hervor: Die wirtschaftlichen, finanziellen und machtpolitischen Sachzwänge und der Dschungel der Gesetze, Regularien und Verträge schränken die politische Handlungsfreiheit auf kosmetische Aktionen oder ferngesteuerte Maßnahmen zur Katastrophenbewältigung ein. Dort, wo sich dennoch die Gelegenheit für neue Gesetze ergibt, werden diese oft von den Vertretern der Interessengruppen geschrieben und von den Strippenziehern mithilfe ihrer Instrumente – den Marionetten im Parlament – in geltendes Recht verwandelt.

Hinzu kommt, dass sich alle etablierten Parteien in ihren Programmen weitgehend ähneln, denn sie alle meinen, sich in der angeblichen Mitte der Gesellschaft Konkurrenz machen zu müssen. Selbst wenn ihre Programme unterscheidbar wären, ist dies ohne Belang für eine Wahlentscheidung. Bislang hat noch jede Partei sowohl ihre hehren Prinzipien als auch viele der konkreten Wahlversprechen ihres Programmes angesichts der – leider, leider – ebenso unerbittlichen wie unvorhersehbaren Sachzwänge vergessen. Oft wurde sogar das Gegenteil des vorher Versprochenen innerhalb von wenigen Wochen durchgesetzt.


Ein schönes Beispiel ist die Entscheidung zur drastischen Anhebung der Mehrwertsteuer um 3% im Rahmen von Koalitionsverhandlungen. Einer der Koalitionspartner hatte sich jedoch im Wahlkampf definitiv gegen jede Erhöhung dieser Steuer ausgesprochen und deshalb Wählerstimmen einsammeln können. Solchen Entscheidungen wird dann unverfroren das Etikett "alternativlos" aufgeklebt und die Sache ist erledigt. Natürlich ist es auch ein beliebtes Spiel, dem widerborstigen Koalitionspartner die Schuld am Bruch der eigenen Wahlversprechen in die Schuhe zu schieben. Sollte nicht allen bewusst sein, dass die folgenreichste Verletzung von internationalen Verträgen, Wahl- und Parteiprogrammen erst vor kurzem stattgefunden hat, nämlich die faktische Vergemeinschaftung der Schulden aller EU-Staaten? Wer jetzt noch ein Parteiprogramm oder eine Wahlbroschüre liest, muss ein Idiot sein!


Empfehlungen zur Gegenpropaganda, verfasst vom fiktiven „Spin Doctor“ Lothar Müller: Der alte marxistisch-leninistische Slogan „Das Sein bestimmte das Bewusstsein“ ist gefährlich, weil er wahr ist. In der heutigen Situation muss er jedoch umgedreht werden. Wir müssen das Bewusstsein der Menschen so beeinflussen, dass es ihr Sein bestimmt (oder zu bestimmen scheint). Deshalb muss diesem Urteil über die Parteien vehement widersprochen werden. Dazu reicht jedoch die Wiederholung altbekannter Standardformulierungen nicht aus. Aussagen wie "Parteien sind die Keimzelle der demokratischen Willensbildung", "Parteien und ihre Funktionäre sind die unersetzliche Substanz der repräsentativen Demokratie, auf der alle westlichen Staaten aufgebaut sind" etc. sind zwar nützlich, aber zu phrasenhaft.


Da Mayerhof in keiner Partei war, muss sich die Strategie der Neutralisation seiner Einschätzungen zunächst auf die Behauptung konzentrieren, dass ihm jede Erfahrung mit der Arbeit der Parteibasis und innerhalb von Parteigremien fehlt, er sich also über Dinge arrogant äußert, die er nicht aus eigener Anschauung kennt.


Ergänzend empfehle ich, alle Mitgliedschaften von JM in den letzten 20 Jahren aufzuspüren und hinsichtlich ihrer propagandistischen Verwertbarkeit zu durchforsten. Dies könnten geheime Clubs oder Logen sein, in denen sich einflussreiche Persönlichkeiten zusammenfinden, die bei ihren Diskussion das Licht der Öffentlichkeit scheuen (Beispiele: Freimaurer, Bilderberger, Davos-Zirkel etc.)


Andererseits muss man auch nach Jugendsünden suchen. Dies können Mitgliedschaften in Studentenverbindungen oder Aktivistengruppen sein, deren rechts- oder linkspopulistische Ausrichtungen ein schlechtes Licht auf JM werfen würden. Zur Charakterisierung von derartigen Organisationen kann man bedenkenlos auch Zitate von Führungsmitgliedern verwenden, die aus einer Zeit stammen, als JM schon lange nicht mehr Mitglied war oder die sogar Jahrzehnte alt sind. Man suggeriert damit nur, dass solche Aussagen den Geist dieser Organisationen reflektieren. Diese Form der „ideologischen Sippenhaft“ ist recht wirkungsvoll, um Menschen in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Der hierfür gelegentlich gebrauchte Begriff „Kontaktschuld“ trifft den Nagel auf den Kopf.


Vielleicht finden sich sogar ehemalige Kommilitonen oder Mitglieder der erwähnten Logen oder Clubs, die aufgrund von Neid oder persönlichen Animositäten bereit sind, über Mayerhofs frühere Aktivitäten in "Geheimparteien" zu berichten. Ziel solcher Interviews muss es sein, den Eindruck zu erwecken, dass JM nicht politischen Verbänden als solchen kritisch gegenüberstand, sondern nur dann, wenn diese auch transparent arbeiten müssen. Vielleicht lässt sich hier auch ein wenig schmutzige Wäsche aus der Vergangenheit ausgraben. So etwas lässt sich bei vielen Gelegenheiten verwenden!


Ausschnitt aus einer Rede des fiktiven Finanzministers Prof. Mayerhof:

Die Kategorien „links“, „rechts“ und „grün“ sind unbrauchbar geworden. Sie müssen durch WUVU und REAP ersetzt werden.


Wir haben uns schon lange an die schwammigen Begriffe "links", „grün“ und "rechts" sowie all ihre Kombinationen und Modifikationen gewöhnt. Sie werden ständig zur Charakterisierung von politischen Programmen, Reden oder Handlungen verwendet, obwohl es keine klare Definition dafür gibt. Jeder hat sich im Laufe seines Lebens mehr oder weniger unterbewusst seine eigene zusammengebastelt. Diese Begriffe werden deshalb entweder als Nebelkerzen zur Vertuschung oder als verbale Farbbeutel zur Diffamierung verwendet. Sie werden mir zustimmen, dass es sowohl witzig als auch entlarvend ist, dass die Sitzordnung im französischen Parlament zur Zeit der Revolution nach mehr als 200 Jahren immer noch zur Charakterisierung des politischen Programms von Parteien verwendet wird.


Schwammige Begriffe ermöglichen jedoch diffuses Denken und sind deshalb geeignete Gefäße für politische Propaganda. Deshalb werden sie immer noch mit ungebrochenem Eifer verwendet und mit vielen bunten Attributen ausgeschmückt. So sind die einen "links von der Mitte", die anderen "rechtaußen" oder "rechtsextrem", "linksradikal", "linksliberal", "rechts von der Mitte" und so weiter und so fort. Jeder behauptet zu wissen, was das bedeutet, doch keiner will oder kann es genau definieren. Dies ist auch logisch, denn die scheinbaren Unterschiede in den politischen Programmen der Parteien werden durch die geringen Freiräume des politischen Handelns praktisch vollständig eliminiert. Die engen Rahmen der Gesetze, Verträge und des Budgets sowie die Kompromisse innerhalb einer Koalition sind einige der Gründe, warum kaum etwas von den Wahlprogrammen der Parteien übrig bleiben kann.

Mein Vorschlag für eine neue Bezeichnung von politischen Richtungen wird Sie vielleicht amüsieren. Ich bin sicher, dass er aus den eben genannten Gründen auch keine Chance auf sofortige Akzeptanz hat. Mittelfristig gibt es hierfür jedoch keine Alternative. Dennoch werfe ich die neuen Begriffe hier kurz in die Runde. Es gibt eigentlich nur zwei Grundrichtungen der Politik. Die erste nenne ich WUVU. Das ist eine – nicht unabsichtlich an Wodoo erinnernde – Abkürzung für "Wunschdenken, Visionen und Utopien". Die Alternative hierzu heißt REAP. Dieses Kürzel steht für "Realitätsnaher Pragmatismus". WUVU basiert im Wesentlichen auf einer Gesinnungsethik, also einer Art Glaubensethik. Sie ähnelt in vielfacher Hinsicht der Ethik von Religionen, da sie immer schärfer zwischen den angeblich richtigen und falschen Meinungen unterscheidet, die Menschen also in „Rechtgläubige“ und „Falschgläubige“ einteilt.


REAP fußt hingegen auf einer ethischen Grundlage, die ich als "humanistische Systemethik" bezeichne und später diskutieren werde. Eine vereinfachte Sichtweise wird unter dem Begriff „Verantwortungsethik“ zusammengefasst. Bei letzterer geht es primär um die Verantwortung von staatlichen Funktionsträgern, die besten Lösungsmöglichkeiten für Probleme zu finden, ohne ihr Gesichtsfeld von ideologischen Scheuklappen einschränken zu lassen. Natürlich gibt es noch eine weitere Form von „Ethik“: Das ist die „Interessenethik“, welche oft die alleinige Richtschnur des Handelns von Managern großer Konzerne ist. Man könnte diese auch die „Ethik des Maximalprofits“ nennen.


Empfehlungen zur Gegenpropaganda, verfasst vom fiktiven „Spin Doctor“ Lothar Müller: Man kann natürlich die berechtigte Hoffnung haben, dass sich diese neuen Begriffe nicht durchsetzen werden, weil Mayerhof nicht mehr am Leben ist. Seine ehemaligen Unterstützer werden vermutlich andere Sorgen haben, als sich für deren Propagierung einzusetzen. Dennoch können die Begriffe WUVU und REAP sehr gut zur Entlarvung des Denkens dieses Mannes verwendet werden. Durch die Methode der schrittweisen Verschiebung des Betrachtungsrahmens kann man sehr überzeugend die folgende Behauptung konstruieren: WUVU ist ein offenkundiger Ausdruck der Verachtung für alle, die sich für mehr Gerechtigkeit, die Abwendung der Klimakatastrophe, die Rettung und Integration von Flüchtlingen usw. – also kurz gesagt für eine bessere Welt – einsetzen. Indem dieses Kürzel bewusst an Vodoo, also an ominöse Zaubereien von Schamanen einiger Kulturen erinnert, wird damit das Wirken der linken und grünen Parteien und Organisationen als nutzloses Gesundbeten diffamiert. In diese Richtung müssen also alle Berichterstattungen über diesen neuen Begriff gelenkt werden. Die Reaktion in den Medien muss von Empörung über die Ignoranz und Diffamierung wichtiger Grundwerte eines großen Teiles der Gesellschaft durchdrungen sein.


Auch REAP bietet wunderbare Angriffspunkte, den wahren Charakter von Mayerhof zu entlarven. Dabei ist es wichtig, keinesfalls auf die detaillierten Beschreibungen der drastischen Veränderungen von Gesellschaft und Regierung einzugehen, die Mayerhof beabsichtigte, um seiner „humanistischen Systemethik“ Geltung zu verschaffen. Deshalb muss die Methode der Verengung des Betrachtungsrahmen angewandt werden: Man sollte sich darauf fokussieren, dass der „realitätsnahe Pragmatismus“ nichts weiter ist, als die herzlose Fokussierung eines kalten rationalen Technokraten auf Steigerung der Effizienz der Verwaltung und die Vergrößerung der Profite der Wirtschaft. Seine akademische Karriere in den USA erlaubt es zudem, ihn als einen theoretischen Wissenschaftler zu charakterisieren, der keinen Bezug zum Leben der Menschen in Deutschland hat und sich dafür auch nie interessiert hat.


Zitat aus: Marionetten, Neo-Stalis und Monsterwellen, Marc DeSargeau, FAGULON-Verlag 2021


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