„Die objektivste Methode, um das Ausmaß von Sicherheit und Glück zu messen, dessen sich ein Individuum bzw. eine Gesellschaft erfreut, besteht darin, sich anzuschauen, worüber man sich erregt oder Sorgen macht. Warum ist das so?
Fast immer sind Glücksempfindungen flüchtig. Sie werden als Folge der Niveauveränderung nach oben erlebt: Man freut sich kurz an dem neuen, besseren Auto, der schöneren Reise, den neuen Möbeln oder Kleidern. Dann sind sie schon Teil der Normalität des Lebens geworden. Sie sind jetzt der Standard, die Grundlinie, auf der man steht und über die man sich deshalb natürlich nicht mehr freuen kann. Vielleicht wird einem die Freude aber auch schon viel früher vergällt, weil man mitten im eigenen Glücksrausch feststellt, dass der Nachbar oder Kollege ein ähnliches - allerdings etwas besseres - Objekt erworben hat. Der Neid zerstört das Glück. Sehnsüchtig richten sich die Blicke der ewig Unbefriedigten wieder auf die nächste, höhere Stufe der Pyramide des Besitzes, Status, Ansehens oder Aussehens, welche man dringend erklimmen muss. Nur kurz streift der Blick noch die vielen Stufen, die unter einem liegen.
Sie werden besonders dann ignoriert, wenn man selbst bereits auf einer relativ hohen Stufe der Pyramide von Glück, Sicherheit, Bildung und Wohlbefinden geboren wurde. Menschen in den reichen Industrieländern wissen zwar, dass es woanders Hunger, Krankheiten und Bürgerkriege mit unvorstellbarer Brutalität des Mordens und Quälens gibt. Bilder können jedoch eigene Erfahrungen nicht ersetzen. So bleiben die Berichte im Fernsehen weit weniger eindrücklich, als dies die meisten Kinofilme sind. Diese können durch dramaturgisches Handwerk und Computeranimationen viel stärkere Empfindungen auslösen, als es in der Regel bei Berichten über die wirklichen Kämpfe und Leiden in der Welt möglich ist.
Es ist also gelegentlich sinnvoll, sich darin zu erinnern, wie lächerlich unsere Sorgen, erregten Dispute, rechthaberischen Anklagen u.ä. dem überwiegenden Teil der Menschheit erscheinen müssen. Die Klagen über unsere Probleme müssen ihnen wie ein schlagender Beweis für ein Leben in schönster Sicherheit und höchstem Glück vorkommen.“
Zitat aus: Die Religion der Überkompensationen, Marc DeSargeau, FAGULON-Verlag 2021
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