Die aalglatten und inhaltsleeren Sprechblasen, die gespielte Leidenschaft oder Empörung und die pauschalisierte Verteufelung aller Aktionen des politischen Gegners lösen bei den meisten Menschen Ablehnung aus, die schließlich zur Verachtung der "verlogenen Politikerkaste" führt. Dass dieses Verhalten fast aller Politiker aber eigentlich aus ihrer Angst vor der Angreifbarkeit erwächst, ist vielen nicht bewusst. Nicht umsonst gibt diese drei Steigerungsformen des Wortes Feind: gewöhnlicher Feind, Todfeind und Parteifreund. Jede kleine Abweichung von der Linie der Parteioberen oder ein leiser Hauch der Kritik an deren unfehlbarer Weisheit kann schon eine Wunde in die Teflonhaut eines Politikers reißen, welche seine "Freunde" begeistert ausnutzen, um ihn aus dem Weg zu räumen und seinen Platz einzunehmen. Thilo Sarrazin spricht aus jahrzehntelanger Erfahrung:
Zitat: "Bei der Konkurrenz um die Macht gibt es stets Parteiungen. Formalisierte politische Parteien sind hier quasi nur die Spitze des Eisbergs. Sobald es um die Macht geht, ist eine gewisse Einheitlichkeit des Argumentierens und Handelns nötig. Diese wird durch eine Einheitlichkeit des Denkens erleichtert, und wenn schon nicht durch die Einheitlichkeit des Denkens, dann zumindest durch die Konformität der geäußerten und wahrnehmbaren Kommunikation. Deshalb ist dem politischen Prozess ein gewisser Zwang zur Konformität immanent.
Dieser Zwang wird psychologisch unterstützt durch die Eigendynamik der Gruppenbildung. Bei der Auseinandersetzung um politische Macht geht es immer um »wir« und »die«, um »uns und die anderen. So wie Fußballmannschaften einheitliche Trikots tragen, vertreten die Mitglieder politischer Gruppierungen gemeinsame Meinungen. Da mag sich der eine oder andere mal durch einen Farbtupfer abheben, aber das geht immer nur innerhalb eines engen Rahmens. Wer zu stark abweicht, wird mit Ausstoßung aus der Gruppe bestraft.
Machtbewusste und erfolgreiche politische Führer vergewissern sich, dass ihre Gefolgsleute sich in jenen Fragen konform äußern, konform handeln und möglichst auch konform denken, die sie für ihre Macht als zentral erachten. Wer das nicht beachtet, wird mit Machtverlust bestraft oder auf mindere Positionen abgeschoben. Wer sich nicht beugt, muss mit jenen Aggressionen rechnen, die Außenseitern in einer Gruppe drohen. So lässt sich die Äußerung des Kanzleramtsministers Pofalla erklären, der 2011 seinen Parteifreund, den Parlamentskollegen Wolfgang Bosbach, angiftete: »Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen.« Bosbach hatte sich erdreistet, Angela Merkels Politik zur Eurorettung mit Sachargumenten zu kritisieren.
In der Summe gilt: Konformes Verhalten ist in der Politik der Karriere förderlich. Ein konformes Verhalten ist dann opportunistisch, wenn es nicht der eigenen Überzeugung entspricht. Da aber dieser Unterschied nach außen gar nicht sichtbar ist und häufig sogar den Opportunisten selber - infolge ihres Wunschdenkens - verborgen bleibt, gilt leider auch: Opportunistisches Verhalten ist in der Politik der Karriere förderlich.
Der Hang zum Opportunismus ergibt sich nicht aus besonderen moralischen Defiziten der Politiker, sondern unmittelbar aus der Grundmechanik von Politik. Selbstverständlich gibt es überall opportunistisches Verhalten, wo Menschen tätig sind und persönliche Ziele verfolgen. Allerdings halten sich in der modernen Leistungsgesellschaft die Vorteile in Grenzen, die durch opportunistisches Verhalten zu erzielen sind, da die berufliche Leistung vielfältig messbar ist, ob es sich nun um einen Maurer, Buchhalter, Anwalt oder Ingenieur handelt. Die Leistung eines Politikers ist dagegen kaum zu messen, wenn man nicht Wahlerfolge als Maßstab nimmt. Die Leistungsauslese für Politiker ist deshalb ein grundsätzliches Strukturproblem. Goldene Zunge und Opportunismus können hier weiter führen als in den meisten anderen Berufen. Kant machte einmal die Bemerkung, dass sich der Satz „Ehrlichkeit ist die beste Politik“ als sehr fragwürdig erweisen könne; der Satz „Ehrlichkeit ist besser als jede Politik“ sei jedoch über jeden Zweifel erhaben.
Der sich aus der Struktur von Politik objektiv ergebende Konformitätszwang und der subjektive Opportunismus des menschlich agierenden Individuums sorgen gemeinsam dafür, dass das Verhalten von Politikern sich nur schwer an Idealen messen lässt. Formal ist der gewählte Abgeordnete nur seinem Gewissen verpflichtet, so wie es im Grundgesetz steht. Tatsächlich wirkt eine Vielzahl von Zwängen auf ihn ein, und so ist er oft doch nur ein Rädchen im Getriebe. Das ist nicht neu, sondern war schon vor 100 Jahren überall dort Realität, wo es gewählte Parlamente gab. Im Übrigen ist der Politiker primär nicht Typus, sondern Mensch, und das prägt auch sein So-Sein als Politiker."
Zitat aus: Thilo Sarrazin, Wunschdenken, Deutsche Verlagsanstalt 2016, Seite 442-443
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